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Faruk

Mein Sohn Faruk, der mich die echte Liebe lehrte und mein ganzes Leben mit seiner Unschuld füllte, kam auf die Welt. Ich beobachtete ihn die ganze Zeit, und während er schlief, kontrollierte ich, ob alles in Ordnung war. Von Monat zu Monat wurde er größer und entwickelte sich weiter. Ich fühlte mich wie der reichste Mensch auf der Welt. Mein Sohn lernte zu sprechen, zu gehen und zu spielen.

Mit 2 1/2 Jahren fing er an weniger zu essen. Im gleichen Jahr wurde er wegen eines Leistenbruches operiert. Wir gingen regelmäßig zum Kinderarzt, bis dahin war alles in Ordnung. Bei der letzten Kontrolle jedoch erfuhren wir, dass sich Faruk nicht weiter entwickelt hatte. Der Arzt konnte das nicht verstehen und sagte: „Okay, wir warten ein bisschen, das kommt manchmal vor.“
Während wir warteten, veränderte er sich. Im Laufe der Zeit bekam Faruk weitere Probleme: Immer wieder Infektionen der oberen Atemwege. Ich musste ihn jeden Monat zum Arzt oder ins Spital bringen. Nebenbei hatte mein Sohn anscheinend Deformationen diverser Knochen. Faruk konnte nicht gesund sein! Ich spürte ganz genau, dass etwas nicht in Ordnung war und ich meinen Sohn untersuchen lassen sollte.

Nach der Untersuchung sprach der Arzt darüber, dass Faruk langsam wachsen würde und er ihm ein Medikament verschreiben könne, das das Wachstum fördern würde. Da gab es jedoch noch ein Problem: Faruks Knochen. Wir sollten in ein Spezial-Spital gehen.

Nach drei Monaten waren wir im orthopädischen Spital in Speising. Drei Ärzte schauten alle Befunde und Röntgenbilder an, untersuchten Faruk nochmal und sagten uns es sei „Achondroplasie“. Ich kam nach Hause, stand unter Schock. Gleich recherchierte ich im Internet. Ich las alle Symptome von Achondroplasie und wusste sofort, dass das nicht die Krankheit sein kann, die mein Sohn hat. Wenn ich Faruks Symptome eingab, bekam ich andere Ergebnisse, die ich nicht anschauen konnte und von denen ich bis zu dem Zeitpunkt noch kein einziges Mal etwas gehört oder gesehen hatte. Bestimmt würde ich beim nächsten Mal Einspruch gegen die Diagnose erheben und eine neue, ausführlichere Untersuchung fordern.

Nach sechs Monaten waren wir nochmal im Spital Speising. Diesmal war ein anderer – englischsprechender – Arzt im Untersuchungsraum. Ich erzählte alles und sagte ihm gleich, dass mein Sohn eine andere Krankheit haben muss, aber ich wusste nicht welche. Der Arzt untersuchte Faruk und forderte neue Röntgenbilder von Wirbelsäule, Halswirbelsäule, Beinen, Hüfte und Gelenken an. Endlich wurde die richtige Diagnose gestellt: Faruk könnte MPS IVB haben.

Zurück zu Hause wollte ich Informationen über diese Krankheit haben. Ich gab MPS ein; als ich die Bilder sah und die Informationen dazu las, kontrollierte ich immer wieder, ob ich die Buchstaben richtig geschrieben hatte. Ja, ich hatte alles richtig geschrieben. Und ich kannte alle beschrieben Symptome von dieser Krankheit von meinem Sohn. Ich las auch, dass sich sein Zustand verschlechtern würde. Falls es MPS IVA sei, würde Faruk viele Probleme bekommen. Aber das Schlimmste war: Es gibt dafür keine Heilung.

Mein Herz brannte, und ich weinte viel. Wenn meine Kinder schliefen, recherchierte ich immer. Ich konnte nicht glauben, dass es keine Lösung oder Heilung gibt. Faruk musste doch irgendwie gesund werden können. Da blieb nur Hoffnungslosigkeit. Ich brauchte Sicherheit, wollte eine Bestätigung für die Diagnose. So ging ich mit ihm ins AKH wegen einer DNA-Analyse und Harnuntersuchung. Das Ergebnis war MPS IVA, eine schwere Krankheit.

Trotzdem mussten wir weiterleben. Faruk litt nicht nur unter den Symptomen der Krankheit, er hatte auch viele andere Probleme. Sein soziales Leben wurde beeinträchtigt. Er wollte sich genauso viel bewegen wie andere Kinder und mit ihnen mitspielen. Aber seine Gesundheit erlaubte das nicht, und er fühlte sich schlecht. Ich war immer bei ihm und unterstützte ihn, aber es ging nicht um mich, sondern um ihn. Ich brauchte mehr Informationen, Erfahrungen und Unterstützung, darum rief ich beim MPS-Verein an. Ich sprach mit Michaela und sie erklärte mir viel. Kurze Zeit später rief sie mich an und sagte mir, dass es eine wichtige Neuigkeit gab. Für das Medikament, das entwickelt wurde, gab es noch einen Platz als Testpatient in der Universitätsklinik in Mainz, wo sie eine klinische Studie durchführten. Faruk könnte zur Untersuchung gehen und man würde sehen, ob er die Einschlusskriterien für die Studie erfüllt. Das war eine Chance, um seine Lebensqualität zu erhöhen. Natürlich hatten wir große Hoffnung, gleichzeitig machten wir uns ein bisschen Sorgen; wenn es ein Problem gäbe oder Nebenwirkungen, was sollten wir dann machen?

In der Klinik Villa Metabolica in Mainz waren viele Kinder, die MPS haben. Wir haben andere Familien kennengelernt, Erfahrungen ausgetauscht und ihre Geschichten gehört. Faruk ging es besser als anderen Kindern; er spielte gut, lief, ging, konnte Treppensteigen. Manche Kinder konnten das alles nicht. Um ehrlich zu sein, ich vergaß mein Leid, weil andere Familien langjährige Trauer in den Augen hatten. Ich wurde ganz froh darüber, dass Faruk fast wie ein normales Kind leben konnte. Für manch andere Kinder war es schon ein großes Erfolgserlebnis, wenn sie ein paar Treppen steigen oder einige Meter zu Fuß gehen konnten. Sie waren glücklich, sich ein bisschen mehr bewegen, besser atmen zu können oder wenn sie mal einen Tag lang weniger Schmerzen hatten. Ich sah ein Mädchen: Sie musste zehn Meter zu Fuß gehen – die Ärzte machten ein Video um festzuhalten in welcher Verfassung die Kinder waren und welche Schwierigkeiten sie haben – sie bemühte sich sehr, die Strecke zu gehen. Aber in ihrem Gesicht sah man Leid, und in ihren Augen den Schmerz. Monatelang konnte ich nicht schlafen; wenn ich meine Augen schloss, sah ich immer gleich ihre Augen und ihr Gesicht.

Im Juni verbrachten wir mit den Kindern einen Nachmittag im Wasserpark. Sie waren sehr froh und spielten gerne im Park. Sie wollten einfach nur spielen. Die anderen Leute starrten jedoch immer auf ihre Hühnerbrust, ihre X-Beine, ihre gekrümmten Gelenke und Wirbelsäulen. Doch die Kinder machten sich darüber keine Gedanken. Ich merkte, dass sie in Wirklichkeit die stärksten und zufriedensten Kinder der Welt sind.

Faruk hatte nicht jedes Mal so viel Glück, manchmal schauten die Menschen und andere Kinder ihn an. Manche Fragen stören uns. Faruk will Fußball spielen, aber er hat nicht genug Luft und Kraft, außerdem ist der harte Ball eine Gefahr für seine Halswirbelsäule. Ich habe ihm vorgeschlagen, einfach Trainer zu sein, damit er trotzdem etwas mit Fußball zu tun hat. Mein Sohn hat große Pläne für seine Zukunft: Er will Polizist werden, heiraten, eine eigene Familie und Kinder haben. Während er darüber spricht, brennt mein Herz, was soll ich ihm nur sagen; die Wahrheit?

Mit der Zeit wird er alles verstehen und begreifen, dass er nicht all seine Träume verwirklichen kann. Ich kann immer bei ihm sein und ihn trösten. Aber mein Trost und unsere Gespräche erleichtern seinen Kummer nicht. Vielleicht wird er lernen, seine Träume und seine Hoffnungen auch mit dieser Krankheit zu gestalten – und trotz dieser Krankheit mitten im Leben zu stehen. Ich wünsche es ihm.

 

Narin G.

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